Tag 01 | 17.10.2016 | Wien – Istanbul
Gebucht hab ich diese Reise vor dem 15. Juli 2016. Frag mich gerade – während ich in der heißen Sauna sitze – zweifach: erstens – hätte ich auch nach dem Putsch und den darauf folgenden, zigtausenden Verhaftungen den Flug bei Turkish Airways via Istanbul gebucht? Und – zweitens: wieso funktioniert mein iPhone bei 80 Grad Celsius?
Sauna – so kurz vor dem Transfer zum Flughafen, weil ich verkühlt bin. Die vergangenen 48 Stunden waren für mich Schüttelfrost, Heissesieben und Ausschlafen. Dreitausend Taschentücher und Pakemed nicht zu vergessen. Heute Abend fliegen wir ab. Von Wien nach Madagaskar.
Antananarivo heißt die Hauptstadt. Tropisch heiß, leicht europäisch und laut online Warnungen des österreichischen Außenministeriums voller krimineller Gefahren. Bei Dunkelheit nicht raus gehen, bei Überfällen freiwillig Alles her geben, deshalb nur wenige Werte mit sich herum tragen. Wenn schon brutal ausgeraubt werden, dann sparsam. Das leuchtet mir ein. Mit Englisch kommst nicht weit, Gott sei dank hab ich sehr kommunikative Hände und Füße mit.
Dann reisen wir im Inland weiter – in den Norden, in die wilde Natur. In den Dschungel und an die Nordost Meeresküste: Urwald und Korallenriffe, Affen und Wale, Berge und Tiefgänge.
Mein Freund Andy Holzer ist wieder mal für dieses Abenteuer verantwortlich. Er reist jedes Jahr mit Life Earth Reisen – auch weil es ein großes Benefizprojekt ist. Mit dem Reinerlös der Tour werden jedes Jahr dutzende Menschen in der »Dritten Welt« an den Augen operiert – und wieder sehend gemacht. Das ist für den von Geburt an blinden Andy und uns alle natürlich doppelt motivierend. Ein Blinder begeistert etwa zwanzig Menschen zu einer Abenteuerreise, öffnet uns Sehenden dabei die Augen – und wir helfen zugleich, dass viele andere Blinde sehend gemacht werden. Eine typische win-win-win Beziehung.
Roger, den wir ja schon von der Antarktis-Tour kennen, ist wieder dabei. Wir haben uns seither nicht mehr getroffen, freue mich schon. Alle kommen wir heute Nacht in Istanbul zusammen. Dort, in der Stadt, wo wir schon seit einigen Wochen nicht mehr daran denken, was im Juli und den Tagen danach dort passierte.
Unsere Wohlstandsempörung brauste in gewohnter Weise für zwei Wochen hoch, wir pudelten uns auf, posteten gegen Erdogan und die Missachtung der Menschenrechte. Zigtausende hinter Gitter. Frechheit. Mittlerweile trinkt Erdogan mit Putin Chai und Wodka, sie fokussieren ihre Armeen auf gemeinsame Wirtschaftsgegner und feiern die Türkisch-Russische Gaspipeline. Vergessen, die Wickel wegen dem einen Jet. Das waren die Putschisten, also gemeinsame Feinde. Naja. So ist das halt. Flüchtlinge kommen seit Monaten auch kaum noch welche zu uns, die Medien bringen derzeit eher News zu überraschenden Selbstmorden von verhinderten Selbstmordattentätern. Oder über unappetitlich zerfetze Bombenopfer in Aleppo. Oder über frauenverachtend rülpsende, präsidentengeile Testosteronaffen. Also werde ich heute, fast auf den Tag genau drei Monate nach dem Putsch für ein paar Stunden in Istanbul sein. Dort gibt’s sicher gutes Baklava und Chai.
Mein iPhone wechselte natürlich längst in den »Hitzeschutz-Modus« – nach gemeinsamer Abkühlpause im Freien geht’s jetzt wieder. Bevor ich mir einen zweiten, heilsamen Aufguss gebe, poste ich also den ersten Eintrag. Mich reißt die Reise aus der Hauptsaison des Coachings – zuletzt war ich fast täglich in Teambuildings, Workshops und Im Wald. Hab zwei leere Notizbücher mit, wenn’s gelingt wie ich es mir ausmale, werde ich ein paar neue Lieder schreiben…
Freu mich, wenn ihr nach meinen Reisen in die Antarktis und Hongkong diesmal wieder dabei seid – wenn wir für zwei Wochen Madagaskar erkunden. Diesmal hab ich kaum Bilder davon, was uns erwartet. Jedoch steht eines fest: Andy hat wieder seinen Kurzwellenfunk dabei – und ich bin sein Assistent. Unser Ziel: Kommunikation nach Europa. Weltumspannend – aus eigener Kraft.
Tag 02 | Istanbul – Antananarivo
Slavoj Zizek ausgelesen. Der neue Klassenkampf. Die wahren Gründe für Flucht und Terror. Hatte die verbliebenen ungelesenen Seiten überschätzt, knapp vor der Landung in Istanbul bin ich durch.
»Vielleicht ist eine globale Solidarität eine Utopie. Doch wenn wir nichts tun, dann sind wir wirklich verloren – und verdienen es, verloren zu sein« – was für ein Schlusssatz. Ich hasse Slavoj – für seine so rücksichtslos voraussichtliche, staubtrockene Art die Dinge beim Namen zu nennen. In dem Buch plattelt er die egoistische Selbstgefälligkeit der im Sommer 2015 so hilfsemsigen Gutmenschen auf, bohrt er seinen Zeigefinger in unsere kapitalistischen Großbaustellen und prangert die egoistischen Abgrenzer an.
Andrea, die Reiseleiterin, kennt Madagaskar – sie sagt, uns wird tiefe Armut begegnen. Oder umgekehrt: Unser Reichtum wird der tiefen Armut begegnen. Und da ist sie wieder, meine Gewissensfrage: Was ist richtig, was ist falsch? Dschungel anschauen mit Benfizspende statt daheim anpacken und wirklich helfen? Verkehrt die Flüchtlingsrouten Richtung Süden und über den nahen Osten fliegen, Urlaub machen, Geld verbraten. Leben genießen, reinfressen oder Demut üben und verschenken?! Ich kenne diese Sinnfragen. Zuletzt im Flieger nach Hongkong, direkt an Syrien vorbei Richtung Dubai.
Es geht doch genau darum: Das Leben zu leben. Wenn schon so viel Glück, dann genießen. Nehmen ohne zum Arschloch zu mutieren. Herz offen – Hirn ein – Seele fliegen lassen. Dankbarkeit. Sei dankbar und dir wird gegeben.
Um 14:00 Ortszeit werden wir in Antananarivo landen – nach Zwischenstopp auf Mauritius. Politisch auch nicht gerade ein Musterland, erst gestern las ich, dass die Regierung dort die Menschenrechte nicht mehr als verbindlich ansieht. Auf Mauritius war ich schon mal, seither weiß ich, dass Ananas nicht auf Bäumen, sondern wie die Zuckerrüben am Feld wachsen.
Die beiden Osttiroler Andy und Andi drei Reihen schräg hinter mir. Große Freude beim Zusammentreffen. Viele neue Gesichter, Paare ebenso wie Solisten. Noch hab ich mich nicht an die Gruppe angedockt, schwirre wie Sputnik um sie herum. Meine Coach-Berufskrankheit ist immer mit mir – ich kann glaub ich gar nicht mehr »nicht« das Team checken, einfach so in eine Gruppe reindonnern und es genießen. Als Coach mit Leib und Seele bin ich nach so vielen Berufsjahren zu einem Teil immer auch der Außenseiter, der Beobachter. Oder war es umgekehrt? Wurde ich zum Coach, weil ich ein Außenseiter war? Auch. Ja.
Meine Augen fallen zu, bin gedanklich daheim, bei meiner giftigen Thujenhecke, sehe ihre unsympathisch dichten grün stinkenden Äste vor mir. Heute Vormittag schnitt ich ihr das zweite Guckloch horizontal durch den fetten Leib. Aber das ist eine andere Geschichte.
Anflug zur Zwischenlandung. Martin neben mir am Fensterplatz. So ein offenherziger Mann. Waldmensch. Steirer. Ehrlicher geht kaum. Beide lesen wir. Bücher übers Leben. Ich: Siddhartha. Vom Loslösen, Flüchten, Missionieren, Wandern, Krise, Freundschaft. Finden statt Suchen.
»Heiße Träume flackerten aus seinen vergrößerten Augen, an seinen dorrenden Fingern wuchsen lang die Nägel und am Kinn der trockne, struppige Bart. Eisig wurde sein Blick, wenn er Weibern begegnete; sein Mund zuckte Verachtung, wenn er durch eine Stadt mit schön gekleideten Menschen ging. Er sah Händler handeln, Fürsten zur Jagd gehen, Leidtragende ihre Toten beweinen, Huren sich anbieten, Ärzte sich um Kranke mühen, Priester den Tag für die Aussaat bestimmen, Liebende lieben, Mütter ihre Kinder stillen – und alles war nicht den Blick seines Auges wert, alles log, alles stank, alles stank nach Lüge, alles täuschte Sinn und Glück und Schönheit vor, und alles war uneingestandene Verwesung. Bitter schmeckte die Welt. Qual war das Leben. Ein Ziel stand vor Siddhartha, ein einziges: Leer werden, leer von Durst, leer von Wunsch, leer von Traum, leer von Freude und Leid.«
Liest sich, als ob Siddhartha eine dekadente Gruppenreise angetreten hätte, und ihn während des Langstreckenfluges Gewissensbisse gequält hätten. Und – bevor ich das Buch fertig gelesen hab, kenne ich den Ausgang: Dankbarkeit. Ja – zu allem was ist. Friedlich sein. Einfach so – alles ist gut.
Jetzt grad viel Liebe da, Gefühle von Vermissen und Sehnsucht. Zu meinen Söhnen hin, beide im Lebensabschnitt des Losgehens. Sich selbst zu tragen beginnen und das Elternhaus hinter sich lassen. Die Ambivalenz brennt im Vaterherz: Gerne Loslassen versus ewig Binden.
»Schau Ihnen nach, wie sie in’s Leben fliegen, ohne sich umzudrehen nach vorne ziehen« – aus meinem Lied »Einfamilienhaus«.
Immer wieder magisch, wie die Entfernung von der gewohnten Heimat und der Familie unmittelbar mein Bewusstsein, meine Dankbarkeit schärft. Wie sich meine daheim teils erstarrten Gefühle melden, befreien – und laut aufschreien: Unsere gemeinsame Zeit ist so kostbar! Jeder Moment zählt. Jeder Tag mehr am Leben ist immer auch ein Tag weniger zu leben.
Siddhartha hat sich mittlerweile von seinem Freund Govinda und von Gotama verabschiedet, erkennt den Meister in sich selbst und sieht pur, was er zuvor bloß bewertet hatte. Die Schönheit der Welt, in Millionen Details.
»Kein Gastgeschenk habe ich dir zu geben, Lieber, und keinen Lohn zu geben. Ein Heimatloser bin ich.« – »Ich habe nichts erwartet. Du wirst mir das Geschenk ein anderes Mal geben. Alles kommt wieder. Auch du wirst wieder kommen! Möge deine Freundschaft mein Lohn sein.« – sagt der Fährmann zu Siddhartha.
Tag 03 | Antananarivo
Seit der politischen Krise 2009 haben unzählig viele Menschen hier ihre Arbeit verloren. Bis dahin dominierte die Textilindustrie in Madagaskar, ein Großteil der Fabriken wurden seither geschlossen. Wenn hier Konzerne nach wie vor ihre Fetzen nähen lassen, dann nur im Rahmen der steuerfreien Freihandelszone. In den Großfirmen verdienst du bis zu 200 Euro, in Kleinbetrieben oft nur 40 Euro im Monat. Für das soziale Wohl der Menschen hier dringend Not-wendige Steuern kommen somit nie hier an, da, wo sie so dringend für Bildung, Infrastruktur und sozialen Frieden gebraucht werden.
Die Perversion der Globalisierung: Hier in Madagaskar kannst du die – in große Ballen gepressten – gebrauchten Textilien aus Europa kaufen. Schuhe, Tshirts, Jeans,… Humana, Caritas und sonstige caritativ anmutende, europäische Kleidungsspendeboxen sind ein knallhartes Geschäftsmodell. Wer den Film »The true cost« gesehen hat, weiss es längst. Die Einwohner tragen nicht mehr stolz ihre eigenen Produkte, sondern unsere secondhand Adidas und H&M »fast fashion Fetzen«.
Arbeitslose säumen die Straßenränder, versuchen sich mit billigen chinesischen Klumpertwaren ihr Leben zu verdienen. Die Stimmung des Volks beschreibt unser Reiseleiter Nessi mit »frustriert«.
Wenn es ein komprimiertes Beispiel für Ausbeutung gibt, dann hier. Madagaskar ist ein Land voller innerem Reichtum. War, muss ich mittlerweile sagen. Bodenschätze, Edelsteine, Regenwald, Meerestiere, Erdöl, Artenvielfalt und Landwirtschaft. Seit langem zieht die westliche Welt hier ab – nimmt und nimmt und nimmt. Was zuletzt Engländer und Franzosen, machen jetzt die Chinesen. Wer über bleibt: das Volk.
50 Prozent der Bevölkerung sind Jugendliche unter 15 Jahren. Was für eine gesunde Kraft. Da werde ich als Mitglied des auf eine Geburtenrate von nur noch 1,4 degenerierten Europas neidisch. Unter 2 bedeutet, dass »wir« in der Zeit über wenige Generationen verschwinden – wobei die Antwort auf die Frage »wer sind wir und wer die anderen?« offen bleibt.
Babies an allen Orten, Kleinkinder krabbeln bei den Füßen der Mütter, während diese am Straßenrand Bananen und andere selbst gekochte Lebensmittel anbieten. Mütter tragen ihre Töchter und Söhne durch die Straßen. Ich empfinde, dass die Menschen hier schon »Glück« ausstrahlen. Es sind die Augen. Viel Feuer, viel Liebe, viel Menschlichkeit.
»Wie ist das für das Kind, hier geboren zu sein? Welche Lebensgeschichte beginnt da jetzt gerade?« – fragt mich Andy, während wir neben dem kleinen Strassenhospital im Schatten stehen, gleich neben dem offenen Fenster des Behandlungsraumes. »Was wird dieses Menschenkind in dreißig Jahren sein, was sagen, was fühlen, wie leben« – Meine Antwort: Schweigen.
Diesen Moment streckt mir ein Strassenkind seine Hände voll chinesischer Sonnenbrillen ans Busfenster entgegen. Umringt von einem Dutzend weitereren, Erwachsenen und sehr jungen. Ist das die Antwort auf Andys Frage? Anstatt das Fenster zu öffnen, halt ich die Kamera hin und drücke ab. Ein Bettler kommt dazu, hält seine schwarze Schirmkappe hin. Martin steigt in die Verhandlungen ein, dank Stau bleibt genug Zeit um ins Geschäft zu kommen. 10.000 statt 60.000 – also 3 Euro. Für die chinesische Sportbrille.
Und da läuft sie. Bloßfüßig neben dem Bus. Strahlt mich mit ihren großen weißen Augen an, ruft immer wieder das Selbe. Ich verstehe kein Wort – doch ich weiß was sie will. Ihre dunklen Haare seitlich liebevoll geflochten, ein strahlend bittend fröhliches Gesicht, geschätzte fünf Jahre jung. Ich greif in die Tasche, zieh einen Schein und drück ihn ihr wie einer Kollegin beim Staffellauf in die Hand. Sie packt zu, bleibt stehen, starrt auf die Note, reißt den Mund auf, blickt links und rechts um sich. Der Bus beschleunigt, wir schauen tief in die Augen und winken uns. Gänsehaut und Knödel im Hals.
Mittagshitze. Königspalast. Nessie in seinem Element: Die Madagassen und ihre Naturreligionen. Glauben an die Ahnen und an den Gott der Schöpfung. Bis die Christen kamen. Dann war’s mal Schluss mit Urverbundenheit und Mystik. Die Gräber liegen nach wie vor immer an einem höheren Platz, an der Oberfläche. Nach dem Tod kommt das ewige Leben – es findet statt in dem Raum zwischen Gott und den Lebenden. Die Toten vermitteln zwischen dem Hier und dem Dort. Also wiederum sehr nah an dem Christentum. Die Madagassen leben sehr geschickt zugleich mit beiden Glaubenswelten. Sie heiraten zwar kirchlich, den Termin für die Hochzeit lassen Sie sich jedoch vom astrologischen Heiler voraussagen.
Die Könige und deren Orte sind heilig, weil die Madagassen an die Kraft der Natur glauben. An Orte, Böden und Pflanzen. Es gibt heilige Pflanzen. Bei den Bäumen werden die Ahnen besucht, man bringt Kerzen, Bonbons und ein Opfertier mit.
Der letzte, wirklich mächtige König regierte im 19. Jahrhundert und heiratetete zwölf Frauen, jeweils Töchter der Inselfürsten. Und so schaffte er es, die ganze Insel friedlich zu einen. Deshalb spricht man noch heute von den zwölf heiligen Hügel. »Der König der im Herzen von den Merina bleibt« – so wird er bis heute genannt.
»Leben die Madegassen monogam«? – frag ich Nessie. »Kommt darauf an.« Sagt er. »Gesellschaftlich ist Polygamie im Süden üblich. Wenn der Mann es sich leisten kann. Im Bergland nicht. Dafür sind es im Norden der Insel immer wieder die Frauen, die das Geld heim bringen.« »Ist es also nur eine Frage des Geldes!?« – frag ich leicht verwirrt. »Ja.« – sagt Nessie trocken.
Dass im Unesco Weltkulturerbe Königspalast Fotografie wirklich verboten ist, wissen wir jetzt auch, die kleine zart gebaute einheimische Ordnerin gab uns eine Ahnung davon, was madagassisches Temperament bedeuten kann. Aber das ist eine andere Geschichte.
15:32. Hunger. Groß. Unser Mittag- wird wohl ein Abendessen werden. Willkommen in Madagaskar.
Tag 04 | Reise in den Regenwald.
Früh los. Rein in den Bus. Stau. Einspurige Straße zum Flughafen. Check in. Flug eins. Landung. Warten. Flug zwei. Warten. Im Nordosten Madagaskars, nahe der Küste. Kleinbus. Rein in die zwei Motorboote. Und dann: Zwei Stunden voller Seegang. Zwei bis drei Meter hohe Wellen. Klitschnass. Richtung Südost. Andy weiß Dank seinem Ohr am Handy immer wo wir sind, wohin wir uns bewegen. Einer kotzt. Motor stottert. Kurzer stop. Wieder volles Rohr. Der Küste entlang.
Und dann. Wie aus dem Nichts der Regenwald. Tiefgrün, tiefgründig. »Wie ein überdimensionales Mooskissen musst du dir das vorstellen!« – rufe ich Andy zu. »Feucht, saftig, dunkelgrün! Weisse Vogelschwärme hocken auf den Bäumen. Dünner Sandstreifen zwischen Meer und Wald, dann geht’s gleich steil nach oben. Wald. Ähnlich wie bei uns. Doch hängen hier auch von oben aus den Baumwipfeln üppig Gewächse nach unten.«
Andy checkt die GPS Koordinaten, sagt mir in welcher Richtung Europa liegt. Immer wieder bäumt sich das kleine Boot, angetrieben von zwei Yamaha Außenbordmotoren, über die Wellen auf, steht kurz wie still in der Luft – um unmittelbar danach mit voller Wucht auf die Meeresoberfläche zu donnern. Halbe Sekunde danach: Die brutale Wasserfläche. Klatscht mir lauwarm und hart auf den Rücken, auf den Hinterkopf. Alles nass. Neben mir der junge madagassische Mann, ebenso wie ich bloßfüßig. Gleiche kurze Frisur wie ich. Immer wieder schau ich lange auf den Bootsboden, seine dunklen und meine hellen Füße nackt nebeneinander. Pur und der Urgewalt des Indischen Ozeans ausgesetzt, gleichwertig, im selben Boot sitzend. Ich vergleiche unsere Zehen. Und spür etwas wärmendes in mir.
Diese Bucht. Angekommen. Endlich. Durchnässt und kalt ist mir. Pinkeln muss ich. Freundlich empfangen, Fruchtsaft und Handtücher. Gepäckträger. Dem dunklen Bloßfüßigen herzliches »Tschau« zurufen. Mitten in der Wildnis. Nur in wirklich schlechten Filmen gibt’s so einen Schnitt: aus der wilden Gefahr und Überlebenskampf direkt ins Happy End. Alles gut, die Welt ist sanft, alles ist organisiert und dein Albtraum ist vorbei. Szenenwechsel. Die Streicher setzen ein. Gänsehaut und feuchte Augen. So war’s. Genau so. Luxus Paradies dort, wo du ekeligen shitpit, dreckiges Schlaflager und bedrohliche Wildnis erwartet, nein – erhofft – hattest.
»So müssen sich die Flüchtlinge fühlen, wenn dann die Wellen auch im Mittelmeer so hoch kommen…« – das ist für mich der Satz des Abends – bevor ich verstumme. Gut gemeint – und mitten aus dem überversicherten Wohlstandsleben. Nein. So fühlen sich Flüchtlinge nicht, kurz bevor sie zwischen der Türkei und Griechenland ersaufen. Oder vor Italien, oder sonst wo – am Weg in die erhoffte Lebenslösung. So nicht. Sie haben keine europäischen Reisepässe in ihren nassen, sauteuren Trekkinghosen, auch lagern ihrer Rucksäcke nicht in der Drybox, auch servisieren keine drei Männer das Boot, auch treiben das Boot keine gewarteten 240PS Yamahas an, auch sind deren Rettungswesen nicht so stabil wie unsere… auch lautet das Ziel der Überfahrt nicht Dreigängemenü, sieben Rumsorten, Photovoltaik Anlage und Moskitonetz-Luxusbungalow 14 Meter neben dem Traumstrand.
Andy funkt. Erste Signale aus Amerika und Serbien. Zu dritt haben wir noch vor dem Abendessen den Mast montiert, die Kabel verlegt, den Strom vernetzt. Immer wieder eine Faszination, wenn es ihm gelingt, mit kaum Technik, jedoch mit komplexen Verständnis in die ganze Welt zu funken…
Siddhartha ist fast ausgelesen, wieder mal das genau richtige Buch zur Reise eingepackt. Hinter mir lassen, was meine Seele blockiert, was mich stumpf und satt macht. Fasten, Warten, Denken. Das sind die drei Reichtümer Siddhartha’s. Frei sein vom Leiden, wenn’s mal knapp wird – um sich die Entscheidungsfreiheit zu bewahren. Fasten, um dem Hunger nicht hilflos ausgeliefert zu sein. Warten, weil alles seine Zeit hat. Und Denken, damit die Klugheit lenkt.
Das Unerwartete des Abends – hier gibt’s WLAN. Über’s Mobilnetz. So ist die Welt vernetzt. Wir schaffen alles. Verbinden uns aus dem Regenwald Madagaskars just in time mit Europa.
Alle in ihren Hütten. Ich allein direkt am Meer. Kühl ist mir. In den weißen Zehen. Whatsapp geschrieben mit meiner Freundin in Wien. Vermiss sie. Bin ihrer halben Heimat gerade sehr nah – und spür diese Sehnsucht mit ihr gemeinsam durch Indien zu reisen. Bald. Blick auf den Ozean. Den indischen. Morgen früh: Auf in den Regenwald.
Tag 05 | Lodge im Regenwald
Südamerika, Nordamerika, Europa und USA. Über 300 Gespräche hat Andy bis Mitternacht geführt. Oben, in dem auf Holzstelzen schwebenden Bungalow. Vor dreißig Jahren saß Andy allein in seinem Zimmer, hatte keine Aussicht auf die Welt, er war aussichtslos.
In dem Dreihundertseelendorf Amlach, tief drin in den Bergen Osttirols. Besenbinder zu werden, das war die von der Gesellschaft vorgegebene Lebensaufgabe für blinde Kinder. Größer zu denken war nicht. »Soll froh sein, dass er lebt.«
Und er begann zu funken. Kurzwelle: ein Stück Draht, eine lange Stange, ein Funkgerät und ein wenig Gleichstrom. Mehr brauchst du nicht, um mit Menschen auf der Ganzen Welt – welche genau das Selbe tun – in Kontakt zu sein. Andy erkundete jeden, ja jeden, Winkel der Welt. Sammelte stapelweise Ansichtskarten von den erreichten Stationen, bereiste innerlich den Planeten wie kein Zweiter. Undenkbar, unvorstellbar es an diese Orte jemals selbst zu schaffen. Die Funker auf den fremden Kontinenten waren seinen Traumfänger, seine Augen, seine Füße. Sie erzählten ihm, er malte sich diese phantasievollen Bilder im Kopf. Andy reiste über sein Drahtstück weiter, bis diese Binder in ihm eine unverhinderbare Sehnsucht entfalteten.
Andy begann zu realisieren, was in seinen Phantasien schon längst Realität war: er begann zu klettern, zu reisen. Auf alle Kontinente, auf die höchsten Berge. Aus eigener Kraft. In diesem Moment ist Andy für hunderte das Augenpaar, beschreibt phantasievoll aus Madagaskar, lässt die Menschen in ihren vielleicht einsamen Zimmern die Welt erleben. Kopfkino aus Regionen, für die, welche es sich nicht zutrauen zu reisen. Andy gibt zurück, was ihm hunderte, tausende andere Funker vor dreißig Jahren geschenkt haben. Weltbilder.
Wir beide bleiben heute in der Lodge, ich schreibe, Andy funkt. Alle anderen spazieren mit Guide durch den Regenwald. Mir geht’s vielleicht ähnlich wie Andy – ich bin hier, sitze unter Dach im Schatten, höre den Ozean, die Tierstimmen. Den Regenwald. Ich erlebe das alles, ohne es sehen zu wollen. Ich will Ruhe. Verarbeiten. So viele Eindrücke: Diese Armut. Diese vielen Menschen auf den Straßen. Dieser Dreck in den Rinnsalen. Diese Schlaglöcher in den Straßen. Dieses unfaire Gefälle, diese schiefe Ebene vom Westen »hinunter« nach Afrika. Ich hab so viele Bilder im Kopf. So viele Gedanken. Filme. Offene Fragen.
Will ich Madagaskar wirklich erleben, indem ich kolonial herrschaftlich in einer noblen Lodge residiere, bedient und verwöhnt von Einheimischen? Will ich in eine europäische, saubere Klomuschel scheissen, mitten im Dschungel!? Mir die Zähne mit Fließwasser putzen, gasbeheiztes Warmwasser aus der Dusche? Ich sehne mich – wirklich – nach diesem dreckigen, öffentlichen Scheisshaus in Antananarivo. Voller Lebendigkeit und Ehrlichkeit.
Natürlich ist es fein hier. Natürlich darf ich es genießen, muss es vielleicht sogar lernen zu genießen, dass es mir so gut geht. Gesund, wohlhabend, sicher und gebildet. Haus und Garten. Das Gute Leben. Das sehr gute Leben. Vielleicht ist es sogar unsere Pflicht, diese Geschenke der Schöpfung anzunehmen. So wie es unsere Pflicht ist, zu geben. Den Wohlstand zu teilen. Zu geben. Arbeitsplätze zu schaffen ohne auszubeuten. Ich will nur für mich sprechen. Meine Lebensphase will etwas anderes von mir. Werde immer ruhiger, stiller. Weniger. Konsumation macht mich traurig. Weniger zu besitzen glücklich. Das alles mit sehr voller Hose gesagt, mit welcher bekanntlich gut stinken ist.
Den Frieden und die Fülle aushalten. Ertragen, was fertig ist. Annehmen und freuen. Auch wenn andere es nicht so erleben können. Nicht anmaßen zu wissen, wie es anderen in ihrem Lebensweg wirklich geht. Gar nicht so einfach.
Ich kenne den Trieb, Funktionierendes als langweilig zu verachten – zu zerstören was zu vollkommen ist. Damit ich wieder etwas zu tun habe. Meine Unruhe wieder die Führung übernimmt. Obergescheit Dankbarkeit und Demut zu predigen ist einfach, in Dankbarkeit und Demut zu leben eine Königsdisziplin.
Tag 06 | einsame Insel. Kap Masoala.
Hängematte. Korallenriff. Kokospalmen. Zeltlager. Liebevoll für uns gerichtet. Die scharfen Korallensplitter und Lavagestein, aus welchen sich die winzige Insel über tausende Jahre selbst geformt hat: liebevoll mit weichem weißen Sand bedeckt, Wege für uns aufgeschüttet. Sandkorb für Sandkorb die acht Zelte miteinander barfussfreundlich verbunden, ein Essenzelt aufgebaut und zwei lange Tische mit den Holzbooten hier her geführt. Nicht überraschend, dass die Reise wieder mal ganz anders ist als erwartet. Den Regenwald kenne ich bisher von der Küste aus, die Einheimischen vor allem durch’s Busfenster.
Ich lerne die Crew kennen, welche unseren Ausflug Tag und Nacht zur verwöhnten Traumreise macht. So viel Lachen, so viel Präsenz, so viel Aufmerksamkeit. Der Bootsmaschinist mit den schönen, schwarzen Füßen war heute während der Überfahrt auch wieder ständig in meiner Nähe. Hab ihm heute zeitig in der Früh zum ersten Mal tief ins von der Gischt nasse Gesicht geschaut, habe wissen wollen, sehen wollen, wie alt er in etwa ist. Und da sah ich Lukas, meinen zwanzigjährigen Sohn in seinem Gesicht. Die selbe Lebensfreude, das selbe Strahlen, die selbe Gutmütigkeit. Und dieses breite Lachen, dieses »Grinsen« im besten Sinne.
»Gerhard, bitte mach ein Foto von uns!« – schrie ich übers dröhnende Motorboot. Fragte ihn um Erlaubnis, stellte mich neben ihn hin und grinste ebenso breit. Unverhinderbar. Es war keines dieser Fotos ala »Europäer will Erinnerung mit schwarzem Mann.«, nein. Es war mir wichtig. Es war eine Geste des Respekts und Dankes ihm gegenüber. Vergleichbar mit den Fotos, die Konzertgäste nach dem Auftritt mit mir wollen. Er „dient“ in einer Art und weise durch seine Arbeit, seine Gegenwärtigkeit, er ist mir Vorbild.
Siddhartha ausgelesen. In mir ratterte bei jedem Kapitel der innere Film. Erkannte meine Lebensphasen im beschrieben Weg, ich erschrak über die Anzahl meiner bisherigen Lebensstationen. Alt fühle ich mich, alt, weil so vieles nur durch eine lange Zeitreise passieren konnte.
Alle bis auf eines sind geschrieben.
Ich drehe mich um und ziehe weiter. Mit meiner Gitarre im Gepäck. Ich warte nicht mehr. Nicht mehr darauf, entdeckt zu werden. Die Zeit ist vorbei. Nicht als beleidigte Leberwurst, sondern gereift, dankbar und glücklich, das alles erlebt zu haben, ziehe ich weiter. Ich warte nicht mehr. Mein Traum hat sich übererfüllt, ich habe Konzerte, Gefühle und Momente erlebt, an die ich für dieses Leben nicht mehr glaubte.
Ich bin geflogen. Ich habe gelernt. Ich habe gerockt, gespuckt und gebrüllt. Ich habe geflüstert, geweint und gefragt. Ich hatte Kontakt mit jener Kraft in mir, mit jener Wirkung, von der ich seit meiner jüngsten Kindheit weiß. Diese Berufung, die so still, tosend und heimlich ist, dass ich sie durch Wollen nicht aus mir heraus bekommen kann. Ein paar hundert Menschen um mich herum wissen es, ich selbst weiß es. Ich habe erlebt, dass es möglich ist. Jetzt kann ich’s mir endlich selber glauben.
Meine Lieder sind da, in der Welt, auf der Welt. Eines noch, dann ist das Werk vollbracht. Ein zweites Lied, nämlich das für meine Mutter, ist auch längst fertig, ich bemerkte es vor lauter Lärm bloß nicht. Es ist eines meiner schönsten Lieder überhaupt, gehört kann es nur werden wenn du vollkommen still bist. Auch das hat mir der indische Ozean heute erklärt.
Frei für neue Formen meiner Kunst, meiner Berufung, da donnert so vieles in mir. Klopft an und freut sich, dass endlich Landeplatz frei wird. Es ist nicht länger meine Sorge, ob meine Musik über den konventionellen Weg zu den Leuten fliesst oder nicht. Es ist nicht meine Verantwortung, dass andere bereit sind mir zuzuhören. Ich schreibe, ich singe, ich komme wenn ich gerufen werde.
Aushalten, dass Wurzeln Zeit und Nahrung brauchen, dass Wurzeln unter der Oberfläche in der totalen Dunkelheit leben und wachsen. Dass Wurzeln nicht gesehen werden, von denen die nur mit den Augen schauen und die sichtbaren Bilder bewerten. Dass Wurzeln sichtbar sind, für alle, die mit dem Herzen schauen. Für jenene, die Zeit nicht überbewerten und nicht Festhalten am Augenblick. Die aufgehört haben zu messen und zu bewerten, weil sie wieder wie ein Kind sehen was sein kann, statt was ist. Weil sie in der Welt der Phantasie zu Hause sind.
Das zu erkennen musste ich nach Madagaskar in die Hängematte, Blick aufs Korallenriff, still Warten und Denken.
Tag 07 | krank
Gestern Abend schon. Kopfschmerzen. Dumpf. Nase zu. Husten sticht in der Brust. Zeitig ins Zelt. Schlecht geschlafen, viel geträumt.
»Sie kommen mich besuchen, doch ich bin nicht in der Hütte.« – mit diesem Satz fahr ich mitten in der Nacht im Zelt auf. Um dann nur mühsam wieder einzuschlafen. Nächster Traum: Ich spiele ein Konzert, großes Orchester: Streicher, Chor, eine Bigband. Wir spielen das erste Lied, ich komme erst später auf die Bühne dazu. Gehe nach vorne zum Publikum – und: Stille. Wir sind nicht zu hören. Die Anlage war nicht an. Kein Ton kam rüber. Ich spring auf einen der Tische. Entschuldigte mich – und sage, dass wir gleich nochmals beginnen. Doch die Leute gehen. Ich lauf auf einen ganz großen Mann zu, stellte mich vor ihm hin und versuchte ihm einen Kinnhaken zu verpassen. Spring mit ganzer Kraft in die Höhe, schwing meinen rechten Arm mit der zu Faust geballten Hand – und schlag mehrmals ins Leere. Fühlte mich mutig und stark, jedoch chancenlos. Dann wieder mühsames Einschlafen. Wach werden mit der Erkenntnis, dass die Madagassen hier auf der Insel die wahren Meister sind, nicht wir, nicht ich, nicht Andy. Wie sie dienen, wie sie – ähnlich dem Fährmann Siddharthas – ihre Arbeit tun, still da sind und auf uns wirken.
Raus ans Meer, in die Finsternis, pinkeln. Wieder rein ins Zelt, Gedanken: »Du erkennst den Meister nicht an der Anzahl seiner Schüler, sondern an der Anzahl der Meister die er hervorgebracht hat.« – hellwach und mit stechendem Husten, leichtem Fieber schwitze ich im Schlafsack. Verbinde diese Traumgedanken mit der Realität unserer Reise, der Reisegruppe.
Andy ist für uns Meister. Er ist es, der diese Gruppe zusammen geholt hat. Er ist es, in deren Nähe wir beim Essen am Tisch sitzen wollen, er ist es. Er, dieses menschliche Wunder. Es bleibt für uns unnachvollziehbar, auch wenn wir dutzendfach nachgefragt, beobachtet und erzählt bekommen haben, wie Andy sein blindes Leben lebt. Ich empfinde es als Privileg, ihm nah sein zu dürfen – und vielleicht ist genau das ein Gedankenfehler.
»Triffst du Buddha unterwegs, töte ihn.« – ein Buch von Sheldon B. Kopp und alter Zen-Koan. Andy kann ganz schön ruppig sein, stänkern und witzeln. Ich beobachte, dass er genau dann härter wird, wenn er der Meinung ist, jemand gibt nicht sein Bestes. Jemand zeigt sich nicht. Jemand versucht »nur dabei statt mittendrin« zu sein.
Es gibt diese Phasen in Reisegruppen, wo es zach wird. Wo die relevanten Geschichten mindestens einmal erzählt sind und jeder jeden kennengelernt hat. Wenn sich die Charaktere gezeigt und positioniert haben, die Nähe- und Distanzbeziehungen sich gefunden. Und dann kenne ich zwei mögliche Weichenstellungen: Entweder wird es still und leichtgängig, ein Spirit von »Wir« breitet sich aus. Die Stärken werden wertgeschätzt und eingebracht, die Schwächen durch andere ausgefüllt. Es wird entdeckt, gezeigt, entfaltet. In die Tiefe. Oder es wird oberflächlich, an Schwächen orientiert und witzig. Es beginnen diese Witzchen zu rennen, über Frauen, Schwule, Blondinen, Polizisten, Politiker, Genitalien, Schweizer, Österreicher, Deutsche, Bayern, Preußen. Das Stänkern. Es ist alles erzählt, und zum Fragen reicht die Neugierde oder der Mut nicht. Dann erzählen wir uns Witze. Um die schwer zu ertragende Leere zu füllen. Wir sind grad an diesem Weichenpunkt. Genau jetzt feiner Spirit, Achtsamkeit. Gefühle. Gestern Abend: Witze.
Ich schlafe mich heute extra aus. Die anderen sind mit den Kajaks in einen Flussarm durch den Mangrovenwald geglitten. Soeben zurück erzählen sie, dass es traumhaft war. Herabhängende Lianen, durch Dörfer und unter Brücken durch. Ich zwischen angefressen und froh, krank hier am Nordost Zipfel Madagaskars in der Hängematte zu liegen. Das hätte ich in Wien auch haben können. Oder eben nicht. Diese Verkühlung hab ich mir bei der nassen Überfahrt zur Lodge geholt, aufgefrischt. Gibt doch wirklich keinen schöneren Ort um sein Kopfweh und die Mattigkeit gut sein zu lassen, als unter Palmen und Blick auf die am Korallenriff berstenden Wellen.
Die gestrige Entscheidung, mein Musiker Sein anders zu leben. Und heute Nacht der Traum vom stummen Konzert ohne Aufmerksamkeit. Dann der Traum von der Hütte, in der ich besucht, gesucht werde – aber nicht da bin. Wie gehören diese Bilder und Gefühle zusammen? Liegt es weniger am Publikum, als an mir selber? Wer, außer mir selber, kann überhaupt verantwortlich sein – für meinen Erfolg?
Nur ich. Ich deute die Träume. In der großen Inszenierung, der Beeindruckung durch viele und laute Instrumente, Musiker, durch mein Streben nach großen Bühnen – bleibt das was ich wirklich, wesentlich zu vermitteln hab auf der Strecke. Da geht’s primär um mein »Ich will!«. Während ich die stillen, kleinen, intimen Bühnen, also die Hütte, bisher tendenziell gemieden hab. Als für mich zu minder abgewertet. Als zu gering, zu unspektakulär und uninteressant. Dabei sind es genau diese Besucher, die mich in meinem Wald, in meiner Hütte, bei meinen ganz kleinen unplugged Konzerten auf-suchen. Freiwillig und gerne nahe kommen. Ganz still sind und aufmerksam jedem Wort, jedem Ton zuhören. Sich berühren und erreichen lassen. Genau das ist es ja auch, was ich meine, mit »mit meiner Gitarre im Gepäck – frei für neue Formen meiner Kunst«.
Zuletzt dieses stromlose Konzert in Wien, vor genau sechs Menschen. Danach sagten Wolfgang und Pamela Jaafar – zwei von mir sehr geschätzte Livemusikfotografen und Musikexperten – dass »Sie bei der Geburt von etwas Neuem dabei waren, sie von mir noch nie zuvor so berührt und begeistert waren.« – jetzt kann ich das besser einordnen.
Tag 08 | Kap Masoala
Elisée. Madagasse. Er mit mir im Kajak. „What’s your dream?“ – frag ich ihn, während wir von der kleinen Insel fort und in das türkise Innere der Lagune paddeln. Der warme Regen prasselt auf unsere Körper. »I want to see snow« – sagt er nach kurzer Pause. »I have never left Madagaskar, i would like to see Europe.«
»Snow is like this rain here, but colder.« – ruf ich nach hinten, während wir im Gleichtakt das Kajak antreiben. Ich biete ihm an, von Europa zu erzählen. »In Europe many people are working too much, they do jobs which do not make them happy. They need much money to buy things, which should make them happy. But this does not work, so they work more to earn more money to buy more things, which also do not make them happy« »This is silly« – sagt Elisée. »About half of the people in Europe are also afraid of Refugiés. We are so rich, we own so many things – but some of us do not want to help. They think, that it’s unfair to pay for Refugiés, they are afraid, that they will loose comfort and happyness.« »Are the Refugiés people from Afrika? Do they look for a better life in Europe?« – fragt er. »Some of them come behause of the economy. Most of them come because of war in their homelands. Thousands of them died in the sea south of Europe. It is such s shame.«
Elisée schweigt und paddelt weiter. »Many People from the Madagaskar countryside go to Antananarivo also because they want a better life. And than they find no good work and become unhappy. They should be happy with the nature, we have everything we need here.« Immer weiter reden wir, über die Menschen in Europa, die Krankheiten und über meinen Beruf. Er will wissen, warum ich singe – und was meine Musik mit den Menschen macht.
Dann zu Fuß durch den heute wirklich verregneten Regenwald weiter, hin zu einem heiligen Ritualort, an dem die Madagassen ihre Ahnen anrufen, ihnen Fragen stellen, Tiere schlachten und Feste feiern. Wir müssen Kopfbedeckung und Brillen abnehmen, das ist hier so. Dutzende Zebu Skelett-Schädel hängen in den Bäumen, alle durch ein in die Stirn geschlagenes Loch auf Äste gefädelt. An der Stapelung erkennst du die Reihenfolge ihrer Tötungen, ganz obenauf die frischen. Der jüngste Schädel schaut mich noch durch seine fetten, verwesenden Wimpern an. Ich verharre, lass mich ein auf diese fremde Welt und Religion. Für Momente ist sogar die Reisegruppe weg. Stille. Was für eine unbedarfte Naturreligion, was für eine Einfachheit im schönen Sinne. »Jetzt bin ich hier angekommen« – denk ich mir. Dauert nicht lange bis mich der Auraeintritt eines Reisekollegen aus der so begeisternd stillen Faszination reißt. Weiter geht’s. Über Basaltgestein und unter Kokospalmen klettern wir weiter, Andy bestimmt das Tempo der Gruppe. Schritt für Schritt tastet er sich voran, achtsam geführt von Andi. Das langsamere Tempo tut uns allen gut, der glitschige Fels ist gefährlich, die Flipflops nicht wirklich das beste Schuhwerk. Zum Glück hab ich meinen Dachstein Spürsinn an.
Wir paddeln wieder. Elisée erzählt mir, dass er viel von Heilpflanzen versteht, denn das Leben im Regenwald findet ohne Arzt und Spital statt. Ob es hier Marihuana gibt, will ich wissen. Und ob es erlaubt auf Madagaskar erlaubt ist. Es wächst überall – sagt er. »It is not forbidden – but we do not consume it public« – das Kraut ist hier vor allem als Medizin verbreitet, ebenso wie dieser aus Blättern einer Regenwaldpflanze gepresste Saft, mit ähnlich berauschender Wirkung. Bei Gelbfieber kochen sie diese Blätter ganz lange und dann wird so viel wie rein geht davon getrunken. Der Kranke verfällt in einen Rausch und überwindet das Fieber. »Do you also have a plant against impotenz?« – frag ich scherzhaft. »Yes« – sagt er. »But it’s no plant, it’s a root.«
Weißt du, Elisée: In Wirklichkeit seid ihr hier die Meister. Und wir Europäer die Lehrlinge. Wir Europäer werden krank, ernähren uns seltsam, kippen uns Schutzimpfungen und Medikamente rein, fahren mit dem Auto statt zu laufen, arbeiten wie die Irren, sind unglücklich, depressiv und ängstlich. Arrogant werfen wir unsere neuwertigen Kleider und Schuhe in Sammelcontainer, kaufen uns die nächsten Modefetzen um für zehn Minuten einen Hauch von Glück zu spüren. fürchten uns vor Veränderung, leben in zerrütteten Familien, sind süchtig. Arrogant schauen wir auf euch herab. Und was erleb ich hier, in Madagaskar? Glückliche Menschen, nicht nur, doch sehr viele. Weise Menschen, naturverbunden, herzoffen, achtsam. Ihr orientiert euch am »Gott der Schöpfung«, an der Macht der Natur. Ihr lebt mit der Erde, nicht gegen sie. Ihr versteht die natürliche Heilkraft, glaubt eurer Intuition. In Wirklichkeit finde ich hier meine Meister.
»Was ist das Wichtigste ist, für Madagaskar?« – Das will ich von Elisée wissen, wenige hundert Meter vor uns schon die Insel. »Education. Education for our children. And: Protection for the nature. China want’s to take our trees, we will not accept this!«
Wir kommen glücklich und müde am weißen Sandstrand an. Reichen uns die Hände und strahlen uns an. »It was a very big honor to be in one boat with you. Thank you, Elisée. I learned so much.« – sag ich zu ihm. »Realy?« – fragt er ungläubig mit seinen großen braunen Augen. »Realy.«
Tag 09 | Lodge, Nordostküste Madagaskar
Gestern Abend. Club 2 vom Feinsten, die Ösis unter sich. Heiße Diskussion unter knallendem Sternenhimmel. Politik, Wirtschaft, Moral. Die wahrscheinlich doch bald nahende Bundespräsidentenwahl.
Verschwörungstheorien und Meinungsfreiheit. Könnte man schon auch als Streit bezeichnen, was dann kurz vor dem Abendessen so abging. Wahlkampf unter engagierten Bürgern. So ist Demokratie: lebendig, kontrovers und konfliktreich. Sogar die Diskussion darüber, ob die Demokratie die beste Form sei, ist in der Demokratie angebracht. So mag ich das. Auch, wenn mir Ort und Rahmen der Arena leicht seltsam anmuteten. Doch jemand, der A sagt und die Weichenstellung zwischen Witzeerzählen oder Tiefergehen thematisiert, muss zwangsläufig auch B sagen und sich darüber ehrlich freuen wenn die Post abgeht.
Bin wieder gesund, wenn auch nicht ganz. Den Husten samt Halsweh bring ich wohl wieder mit nach Hause, kann die Reise am Sonntag ja stimmig beenden, wie sie begann: mit zwei Sauna Aufgüssen, um gesund zu werden. Für die Termine am Montag.
Obwohl: Wenn ich mir das glaube, was ich hier während der Reise entdecke, dann kann’s nicht 1:1 wie zuvor weiter gehen. In meinem Privatleben tat sich diese Tage viel Gutes, meine Berufung peckt mit der Vehemenz eines Kükenschnabels die nächste Eierschale durch. Mein Lebensabschnitt steuert selbstbewusst auf den Fünfziger zu, wenn ich es mir selbst schon nur ungern glaube, so beweist meine Geburtsurkunde mir das halbe Jahrhundert. Und somit ist die Wahrscheinlichkeit hoch, tatsächlich erwachsen zu sein. Ein erwachsener Mann, ein bisschen weise, jedenfalls routiniert und oft genug gescheitert um seine Narben zu verstehen. Meine Sehnsucht nach Einfachheit hat sich in eine stimmige Entschlossenheit verwandelt, ich will und werde mit weniger mehr Masse bewegen, beschleunigen.
Einstein sagte viel Gescheites – zwei seiner Sätze liebe ich, erstens: E=m*c2 – bedeutet: Die Energie ist umso stärker, je schneller die Masse beschleunigt wird. Also kommt’s nicht darauf an, wie lange wir die träge Masse betrachtet, begleitet haben. So arbeiten jedoch viele. Der zweite Satz: »Viel mehr als die Vergangenheit interessiert mich die Zukunft, denn in dieser gedenke ich zu leben.«
Erik – so heißt der Boots-Maschinist. Zweiunddreissig ist er. Heute bei der Rückfahrt schenkte ich ihm meine Neopren-Schuhe, er kann sie tausendfach besser gebrauchen als ich. War ein unspektakulärer, jedoch sehr herzlicher Moment. »For the next time, when it’s so cold.«
Mich zieht es schon heim. Nach fünf weiteren Nächten bin ich wieder in Wien. Andy funkt. Nonstop seitdem wir wieder zurück sind. In einer Stunde gehen wir – geführt von Elise – in den Regenwald, bei Nacht.
Tag 10 | Regenwald, Indischer Ozean
Ronny ist mir in diesen Tagen ans Herz gewachsen. Seine Freundin liest von Deutschland aus mit, was ich täglich so schreib. »Sie ist in einer Sache nicht deiner Meinung: In Europa gibt es viele glückliche Menschen« – sagt mir Ronny, während wir durch den Wald ziehen. »Ja Ronny. Das stimmt. Wenn ich schreibe, polarisiere ich gern. Ich betrachte Situationen zuerst provokativ isoliert von einer Seite, von meinem Standpunkt aus. So wie wir beide den Baumstamm vor uns sehen. Ich beschreibe die uns zugewandte Seite – wie der Baum von der anderen Perspektive aussieht, nicht.
Meine Lieder und Geschichten sind nur gesamt betrachtet, aneinandergereiht stimmig. Isoliert sind sie nur ein Bruchteil meiner Realität. Wenn ich über die Freude schreibe, dann ganz sicher auch ein anderes mal über die Angst, den Schmerz, die Wut. Die Krankheit Europas ist der Egoismus mit all seinen Geschwüren: Angst, Gier, Sucht, Hass, Abgrenzung, Überheblichkeit, Unachtsamkeit und Unfairness. Den Heiler interessiert natürlich primär die Gesundheit. Deshalb beschäftigt er sich mit den Wurzeln der Krankheit.«
Wann es das »stille Lied« für meine Mutter zu hören geben wird, will Ronny wissen. »Das ist längst fertig. Es sind einfach dreieinhalb Minuten Stille. Kann sein dass ich es trotzdem mit meinen Musikern einspiele, Stille ist ja nicht Nichts. Stille ist Alles.«
Wir kommen auf Eltern zu sprechen. »Mein größtes Lernen war – in Bezug auf meine Mutter – zu erkennen, wofür ich verantwortlich bin, und wofür nicht. Damit meine ich vor allem die Gefühlswelt. Welche sind meine Ängste, und welche ihre? Was ist mein Schmerz, und welcher ihrer? Was ist meine Wut, und welche ihre? Was ist meine Freude, und welche ihre?«
Mit unserer Müttern sind bis zum Ende des ersten Lebensjahres untrennbar verbunden. Wir sind die Mutter, die Mutter ist die Welt. Ist die Mutter weg, ist die Welt weg, sind wir selber weg. Totalverlust unserer Selbst. In solchen viel zu frühen Trennungen verlieren wir uns – und unser Urvertrauen. Beziehung wird zur lebensgefährlichen Bedrohung, leider paradox zeitgleich gemischt mit der überlebensnotwendigen Sehnsucht nach Bindung.
Für mich ist die Klärung der Kinder-Eltern Beziehungen der Schlüssel zur Lösung der großen menschlichen, gesellschaftlichen Probleme. So viele von uns kleben auch als Erwachsene emotional wie Säuglinge an ihren Eltern fest, sodass sie nicht und nicht in ihre Kraft kommen.
Es kostet überaus viel Energie, sich sein Leben lang durch den emotionalen Dschungel der verstrickten Familienbande zu kämpfen. Und jeder der dieses Familiengeflecht seiner Herkunft nicht löst, nimmt die Muster mit in die eigenen Beziehungen. Das (!) ist die Quelle der Konflikte, der Kriege, der Machtkämpfe.
»Jedes meiner Lieder schrieb ich mit dem Fokus auf eine heilende Wirkung. Natürlich auch das für meine Mutter.« – erzähle ich weiter, nachdem wir die Rinde vom Vanillebaum gerochen und gekostet haben. »Willst du nicht dich selbst damit heilen?« – genau für diesen deutsch-kritischen Scharfsinn lieb ich Ronny. »Beziehung betrifft immer alle Beteiligten. In dem Fall: ist’s für sie. Einfach die Stille aushalten und still lauschen. Zulassen, dass das große Nichts kommt. Und dass es nichts zu sagen gibt. Das ist die beabsichtige Wirkung.«
Und ja: Europa ist wunderbar. Voller Menschen mit Zuversicht, Herz und Verstand. Gesundheitssystem für alle, Verkehr modern, Bildung und Meinungsfreiheit. Sensationelle Unternehmen, top Architektur und Kultur zum puren freuen. Frieden seit mehr als 70 Jahren. Nicht lange, jedoch traumhaft. Doch das ist eine andere Geschichte.
Wir baden im Ozean, dann mit dem Kanu durch den Mangrovenwald. Diese Stille. Diese üppige Natur. Diese Fülle. Diese Farben. Diese Macht. Mit Andi und Andy zu Fuß den Strand entlang. Männergespräche. Ich schätze diesen achtsamen emotionalen Austausch von Mann zu Mann…
Morgen fliegen wir wieder in die Zivilisation, Sehnsucht nach daheim ist da. Die Freude hier zu sein auch. Schreiben ist jetzt mal vorbei für heute. Bin müde.
Tag 11 | Rückreise nach Antananarivo
Barfuß der Küste entlang. In’s der Lodge benachbarte Dorf. Geschätzte 200 Madagassen leben hier. Die Bewohner wissen, dass wir kommen. Wir werden herzlich empfangen, Kinder stehen zusammen und bestaunen uns, die Frauen stehen in einer Gruppe am Sportplatz und schauen uns freundlich an, die pubertierenden Mädchen flechten sich wiederum in einer eigenen Gruppe die Haare. Die Männer? Nicht zu sehen, ausser ein paar junge Burschen, verstreut.
Der Gesang und Tanz der Frauen beginnt, für uns haben sie gegenüber eine Sesselreihe aufgebaut. Ich setz mit zu einer kleinen Gruppe Kinder und Frauen ins Gras. Eindringliche Rhythmen und Gesang im Chor, die Frauen kommen einzeln oder zu zweit nach vorne und stampfen selbstbewusst auf ein am Boden liegendes Brett. Gänsehaut und feuchte Augen, so viel Lebendigkeit und Freude auf einem Haufen! Tanz fertig, wir kommen einzeln vor werfen unter deren Applaus Geld in eine Kiste. Dann wandelt sich die Szene, die Frauen breiten Strohmatten aus, setzen sich in einer Reihe auf den Boden und legen ihre Waren davor hin. Holzschnitzereien, Gewürze, einfacher Schmuck. Das nenn ich perfekt inszenierte Heizdeckenfahrt.
Ernsthaft: nichts von dem wirkt zwingend oder druckvoll auf uns, es entstehen humorvolle Verhandlungsgespräche und jeder von uns gibt sein ganzes Geld aus. Dabei wird auffällig viel berührt, der Körper spricht mit. Ich werde von fünf jungen Frauen zugleich bedient, sie kichern während sie das einzige für meine großen Hände passende Armband suchen und eines nach dem Anderen an meinem Handrücken scheitern. Bis dann eben ein Reifen passt. Eine Mutter nimmt ihr Kleinkind zur Brust und redet währenddessen einfach weiter. Ich zeige ihnen meine nach aussen gestülpten, lehren Hosentaschen als Beweis meiner Zahlungsunfähigkeit und widme mich wieder den Kindern. Auch da wieder: Angreifen, auf den Schoß setzen, und: immer wieder ganz tief in die Augen schauen.
Meine Tattoos waren für die jungen Buben besonders interessant, vor allem die Schlange. Ganz nah ran, jedes Detail inspizierte der mutigste von Ihnen, während er laut und begeistert für die anderen erzählt, was er sieht. Dann entdeckt er den Uhu auf meiner Schulter und das Spiel wiederholt sich.
Tote werden an achtsam ausgesuchten Orten begraben. Nach sieben Jahren kommt das Dorf zusammen und gräbt jeden einzelnen Knochen wieder aus, putzen sie und wickeln sie in ein Leintuch. Das Leintuchpaket wird dann wie ein Neugeborenes angezogen und in einem überirdischen Zementwürfel endgültig beigesetzt. Die sieben Jahre sind für den Übergang, im Glauben der Madagassen braucht der Übergang von Sterben bis zum wirklichen Tod diese Zeit. Alle weiteren sieben Jahre werden die Knochen dann wieder feierlich gereinigt und auf’s Neue gebettet.
Letztes Abendmahl in der Lodge. Fisch, Zebu und Linsen. Reis natürlich auch. Andy versucht sich an der uralten Gitarre, diese ist jedoch hinüber. Die Gruppe löst sich auf, ein harter Kern bleibt. Ich natürlich dabei. Der Chili-Rum hat’s mir angetan – heute früh, jetzt gerade, geht’s mir überraschend gut im Kopf. Wir diskutierten konzentriert über den Gesellschaftswandel, über Zukunftsmodelle. Über die Gefahr, des Krieges und wie der Wandel friedlich gelingen kann. Aber das ist eine andere Geschichte.
Wir packen dann alles zusammen. Unsere Heimreise hat begonnen.
Tag 12 | Antananarivo
Geschafft und glücklich wieder im Hotel. War heute außer anstrengend nur anstrengend. Ich mit Rückfall und Fieber im Bett. So schaut’s aus.
Tag 13 | Antananarivo und Landesinnen
Gestern war dann der Akku leer. Zu oft mit Aspirin nachgeholfen, die Symptome unterdrückt. Heute besser, die Nacht durchgeschlafen und durchgeschwitzt.
Unsere geplante Tour ins Landesinnere wegen Unruhen abgesagt, soviel ich verstanden habe geht’s darum, gegen den wirtschaftlichen Eintritt Chinas zu demonstrieren, die Bevölkerung ist anderer Ansicht als deren Regierung. Ersatzprogramm nicht nach meinem Geschmack: Bustour in Souveniershop, sogar ein Reptilienzoo ist geplant. Heute ist unser Puffertag, eine Gruppenreise braucht so etwas zu Sicherheit, falls unsere gestrigen Air Madagaskar Rückflüge schief gegangen wären. Sind sie aber nicht. Ich hab mich damit abgefunden, bin gedanklich noch im Regenwald, in dieser so gewaltig mächtigen Naturregion. Sitze als einziger allein auf einer Zweierbank im Bus und genieße das. Döse vor mich hin, träume, phantasiere.
Der Kontrast der Stadt zum Dschungel ist eine spirituelle Bruchlandung für mich. Da wo gestern noch glücklich strahlende, naturverbundene Kinderaugen mich angesehen haben, schauen mich jetzt die leeren Augen des bettelnden Mädchens durch die Bustüre an. Immer wieder sagt sie das Selbe, hält den Kopf leicht schief, pendelt monoton mit dem Arm hin und her, die Handfläche nach oben gehalten. Ihre Mutter knapp und streng hinter ihr. Diesmal gebe ich kein Geld. Setz mich auf meine Zweierbank gegenüber der Bustür und schau weg. Und wieder kurz hin. Und weg. Und hin. Das Bild bleibt gleich. Emotionslos. Wir warten noch auf ein paar Nachzügler. Dann packt’s mich: Sie ist Kind. Und ich will ihr verdammt nochmal wie einer Fünfjährigen begegnen, so wie dem kleinen Mädchen vor zwei Tagen im Dorf.
Ich reiß den Kopf weg vom Fenster, nach rechts, blitzschnell. Erschreck die Kleine, reiß den Mund auf und streck die Zunge weit raus. Sie zuckt, schaut zur Mama, wieder zu mir – und zeigt mir ihre kleine, rosane Mädchenzunge. Einmal, zweimal, dreimal. Ich lass meinen Blick erstarren. Zieh die Augenbrauen tief nach unten, presse die Lippen zusammen und spiele den starken, bösen Mann. Ihr ist das sehr recht, den diesen Blick kann sie besser als ich. Das Spiel wiederholt sich, dann bettelt sie wieder emotionslos, meidet – so wie die Mama es ihr abverlangt – den Blickkontakt mit mir. Damit sie die Leidende, Hungrige, Arme wieder oskarreif rüber bringt. Ich verschärfe die Dosis, warte bis sie rüber blinzelt – steck den Zeigefinger tief in mein Nasenloch und bohre wie ein Wilder. Was sie unter unüberfühlbarer Freude sofort nachmacht. »Gut, denk ich mir. Wer A tut muss auch B machen.“ – ziehe den Finger wieder raus und steck ihn unmittelbar in meinen Mund. Was sie zum Ekeln bringt.
1:0 für mich. Dachte ich. Wenige Sekunden später macht sie es auch, schummelt allerdings, indem sie bloß so tut als ob. Wir lachen. Laut. Die Mama mittlerweile übrigens auch. Minuten später rüttelt der Motor den Bus durch, wir starten. Am gegenüberliegenden Straßenrand sitzen sie jetzt, mit dem Rücken an die Hauswand gelehnt. Wir blödeln weiter, das Mädchen versteckt sich unter dem Rock der Mutter, ich mich hinter dem Vorhang. Immer wieder, tauche mal links, mal rechts, mal unten vom Vorhang auf und schneide Grimassen. Sie quietscht vor Lachen. Wir fahren. In den Souvenirladen. Auch dieser Tag wird vorüber gehen.
Ein gelber Porsche fährt an uns vorbei. Ein Raunen geht durch manche Reihen. »Dreihudertirgendwas PS!« – ruft jemand voller Freude. Martin erzählt von pubertierenden Steirerinnen, die sich endlich wieder ein Dirndl anziehen. Heimat, bald hast du uns wieder. Ich greif in meine Hosentasche, greif mir die Hinflug – Ohrstöpsel, press sie in meine Ohren und schließ die Augen. Meine Gehörwelt verwandelt sich in ein dumpfes, unverständliches Gedröhne. Tshirt über den Kopf. Gesundschlafen.
Zuerst ärgere ich mich noch, weil ich glaube, Nessi will uns in noch so einen Souvenirladen zerren. Es sei eine »Werkstatt, die aus Müll Lampen macht.« – sagt er. »Recycling sei in Madagaskar noch kein großes Thema, ein Ehepaar hat den Betrieb erfolgreich aufgebaut. Man kann dort Lampen kaufen.« – na gut. Gut, gemma halt rein.
Von weitem höre ich blechernes Hämmern, das zischende Brummen von Schweissgeräten, am Boden Bewässerungsgräben, in denen Wasser fließt. Gänse, Hunde. Einmal um’s Eck fällt mir die Kinnlade runter. Dutzende Arbeiterinnen, teils mit ihren Kindern, hocken unter einem Flugdach und bearbeiten meist hämmernd Blechteile. Eine Gruppe von Blinden fertigt über einer Schablone Halbkugeln aus Metall. Babies liegen, Kleinkinder krabbeln über den staubigen Boden. Es ist laut. Schrill.
Gegenüber Männer, die sich teils mit Gebärdensprache unterhalten und mit schweren Hämmern an Ambossen Stahlringe kalt schmieden. Der eine will meine Tattoos sehen, zeigt mir seine in den Unterarm gepeckten Initialen »F I« – schreibt seinen ganzen Namen mit einem Schweissdraht in den staubigen Boden. Er ist taub. Schön langsam glaub ich, dass detailgenaue Tätowierungen eine Marktlücke hier in Madagaskar sind…
Dahinter beginnt ein großer Garten. Bananen, Mangos und jede Menge andere Lebensmittel wachsen. Gut bewässert, überall fleissige und freundliche Arbeiter. Mir fällt das bettelnde Mädchen von heute Früh ein – wie gut würde sie hier her passen. Ich löse mich von der Gruppe, gehe staunend durch den Garten. Ein alter, verloren und verwirrt wirkender Mann sitzt unter einem Palmendach und sortiert Laub. Ja: Laub. Einen riesen Haufen vor ihm, legt er Blatt für Blatt auf separate Haufen. Und strahlt dabei. »Wo bin ich hier?« – fragt es mich. Gehe weiter und – höre Kinderlachen. In einem offenen Pavillon unterrichtet eine stolze, tiefschwarze Lehrerin einen quirligen Haufen Kinder. Sie warten bis die Ablenkung durch uns weiße Sonderlinge vorbei ist, fokussiert die Kinder nach vorne und macht weiter.
Dann weitere Schulklassen. Gut besucht. Konzentriert sind sie alle. Wieder wird meine Schlange zur aufregenden Lachnummer einer ganzen Tischreihe. Mein Kokettieren klappt auch hier, am liebsten würd ich mich in die Klasse setzen und für einen Augenblick dazu gehören. Im Geschäft nahe dem Parkplatz geben wir gerne Geld aus, kaufen Büchsen, Lampen, Skulpturen. Weil wir verstanden haben, warum. Dieses Projekt holt von der Straße, macht selbstbewusst, lehrt Naturwissen und Handwerk, gibt sozialen Halt, schafft Wertschöpfung. Keine Fetzen aus Europa, sondern selbst Produziertes aus dem was da ist. Social business pur – so wie wir es in Europa jetzt beginnen wollen. Für Neugierige: »Atelier Violette at Dieudonne«.
Reisfelder, Schlaglöcher und eine Nacht im Irgendwo. Morgen Heimflug. Lodge an See im Landesinneren. Mit Andy hab ich Ruck zuck die Kurzwellenfunkanlage aufgebaut, er entspannt gerade und ist mit sich allein. Anstrengend auch für ihn, teilweise besonders für ihn. Die Hindernisse und der Lärm der Stadt sind heimtückischer als die in der Natur.
Was ich mitnehme, von dieser Reise zwischen wilder Natur, anonymer Bevölkerungsbetrachtung durchs Busfenster und großartigen Gesprächen mit Andy und so manchem anderen in der Gruppe? Jedenfalls Demut. Jedenfalls die Erkenntnis, dass die Urvölker uns gerade heute, wo wir ja nachhaltig werden wollen, viel zu sagen haben. Jedenfalls, dass ich bald mit Rucksack und meiner Geliebten nach Indien will. Und, auch jedenfalls, dass weniger mehr ist, dass mit einem Kinderlachen kein Porsche der Welt mithalten kann. Nicht einmal ein gelber.
Tag 14 | Madagaskar Istanbul Wien
Gut und müde sind wir alle wieder daheim angekommen. Am Weg zum Flughafen hatten wir einen besonders umsichtigen Busfahrer, trotzdem hätten wir den Abflug beinahe verpasst.